68er Zeitdokument
Ich bin neugierig – gelb, Ich bin neugierig – blau (2 DVDs)
Die beiden Filme des schwedischen Regisseurs Vilgot Sjöman sind aus heutiger Sicht vor allem filmzensurhistorisch sowie zeitgeschichtlich interessant. Sjöman realisierte zwei sozialkritische Werke, welche mit dem Skandal spielen, um den politischen Ideen Aufmerksamkeit zu verschaffen. Die aus damaliger Sicht freizügigen Sexszenen sorgten dann auch für den entsprechenden Wirbel, so dass Beschlagnahmung (USA) und Schnitte (Deutschland, Frankreich) die Folge waren. In Schweden kamen die Filme ungeschnitten in die Kinos, entfachten aber kontroverse Diskussionen. Für den heutigen Zuschauer ist das kaum noch nachvollziehbar, da es sich bei entsprechenden Nacktszenen um harmlose Körperansichten mit gespieltem Sex handelt, wie es heute in vielen Filmen üblich ist. Filmästhetisch besteht der Unterschied zu heute üblichen Sexdarstellungen nur darin, dass auf sämtliche Erotisierungsstrategien verzichtet wird, so dass jegliche Luststeigerung von vornherein unterlaufen wird.
Im Mittelpunkt beider Filme, die im Abstand von ein paar Monaten gedreht wurden, steht die Schauspielschülerin Lena Nyman. In der zuerst entstandenen gelben Variante lebt Lena mit ihrem Vater in einer Wohnung. Der Vater ist aus dem spanischen Bürgerkrieg desertiert, was Lena mit einer Schamtafel, auf der sie die Tage seit der Rückkehr ihres Vaters zählt, in bösartiger Weise kommentiert. Mit dem Regisseur des vorliegenden Films, Vilgot Sjöman, verbindet sie eine Liebesaffäre. Sjömans und Lenas Verhältnis wird auf diese Weise Teil der Filmhandlung. Zwischendurch führt Lena Straßeninterviews, in denen es unter anderem darum geht, ob Schweden eine Klassengesellschaft sei.
In der blauen Variante trifft Lena einen alten intellektuellen Ziehvater wieder, mit dem sie eine neue Affäre beginnt. Ein Autohändler, mit dem Lena im gelben Film das Bett geteilt hat, taucht auch hier wieder auf. Zwischenzeitlich verlässt Lena Stockholm, um auf dem Land ihre Mutter zu suchen, welche die Familie vor Jahren verlassen hat. In Lenas Interviews spielen diesmal vor allem Fragen zu den Themen Religion, Kirche und Sex eine Rolle.
Eine klare Trennung zwischen Filmhandlung und Realität existiert in den beiden Werken nicht. Das Techtelmechtel zwischen Regisseur Sjöman und seiner Hauptdarstellerin Lena Nyman wird
Teil des Films so wie es möglicherweise auch Teil des realen Lebens war. Möglicherweise ist diese Verwischung aber auch nur eine inszenierte Strategie zur kritischen Reflexion über den Wahrheitsgehalt eines filmischen Werkes. Sjöman setzt solche Ideen weiter fort, indem das Filmteam oftmals im Bild zu sehen ist – wobei hier zu bedenken bleibt, dass immer noch eine zweite Kamera, nämlich die filmende, unsichtbar ist, so dass die Kinoillusion nur dann vollständig aufgebrochen werden könnte, wenn diese über einen Spiegel auch noch offenbart werden würde -, die Straßeninterviews einen dokumentarischen Charakter haben, aber im Dienste der Charakterisierung der Filmfigur Lena stehen, und Handlungselemente aus der Filmhandlung plötzlich in die konstruierte Realität springen. So entwickelt sich aus einer Szene der Spielhandlung ein Streit, welcher wiederum dazu führt, dass das Filmteam wartet, bis dieser beendet ist, da so nicht weiter gedreht werden kann. Der Streit springt folglich plötzlich aus der Filmhandlung heraus und wird zum Störfaktor bei den Dreharbeiten. Solche Glanzlichter filmischer Reflexion sind es, welche das Doppelwerk auch heute noch interessant machen. Sie tauchen aber nur selten auf. Dominierend sind die Gespräche über das Thema Klassengesellschaft, die provokanten Fragen an Mallorca-Urlauber, wie man in einer Diktatur unbeschwert Urlaub machen kann, und Fragen über sexuelle Freizügigkeit sowie kirchliche Moral.
All diese Ansätze sind Teil des aus heutiger Sicht hemmungslos naiven kritischen Aufbruchs der 68er-Zeit, welche die gnadenlose Vereinfachung komplexer Zusammenhänge brauchte, um die verkrusteten Strukturen aufbrechen zu können. Das mag zwar in Zeiten der Globalisierung auch wieder notwendig sein, um ein agitatorisches Gegengewicht zu den plumpen, gebetsmühlenartigen Reden der politischen Entscheidungsträger sowie den Wirtschaftslobbyisten zu bilden, aber die Fragen sind andere. Die Einteilung in Klassen wäre ein zu starres System der Globalisierungskritik, welches die dynamischen Veränderungen nicht brauchbar abbilden kann. Die übrigen im Film thematisierten Fragen besitzen aus heutiger Sicht nur noch einen zeitdokumentarischen Charakter, da sie sich nicht mehr stellen. So bleibt das Doppelwerk über weite Strecken wirkungslos, da seine fragmentarische Handlung auch nicht an dramaturgischen Konzepten des Erzählkinos – wie beispielsweise Spannung – orientiert ist. Die Handlung überlebt das Experiment deswegen auch nicht auf der rein emotionalen Ebene. Unter Umständen bietet das Doppelwerk aber Inspirationen, wie sich die Ansätze auf heutige Fragestellungen und heutige filmästhetische Mittel hin aktualisieren ließen.
Bildqualität
Die Bildqualität der DVD ist vor allem vor dem Hintergrund des Filmalters gut geworden. Ein paar Dreckspuren und Defekte sind noch zu sehen, sie treten aber nur selten auf. Die Schärfe fällt bei Totalen etwas schwächer aus, hier ist das Bild leicht matschig, bei Nahaufnahmen wird sie besser und erreicht zumeist gute Werte. Der gelungene Kontrast sorgt für ein plastisches Bild, in dem keine überstrahlenden oder sehr dunklen Flächen auftreten. Ein leichtes Hintergrundrauschen begleitet den Film permanent.
Tonqualität
Die Mono-Tonspuren leisten eine sehr gute Arbeit, da es keine Verzerrungen oder dumpf klingende Passagen gibt. Das Rauschen wurde auf ein Minimum reduziert, so dass die Dialoge klar und verständlich wieder gegeben werden. Die Abschnitte, für die keine deutsche Synchronisation existiert, wurden mit deutschen Untertiteln versehen.
Extras
Das reichhaltige Bonusmaterial besitzt eine hohe Qualität. Auf der ersten DVD sind neben der „gelben Variante“ des Films Interviews und eine Kurzdokumentation enthalten.
Im Geleitwort des Regisseurs (etwa fünf Minuten) berichtet Vilgot Sjöman über die Entstehungsgeschichte des Films und sein künstlerisches Konzept.
Die Kurzdokumentation „Der Kampf um Ich bin neugierig Gelb“ (etwa neun Minuten) schildert auf anschauliche Weise einige Hintergründe zur Zensurproblematik des Films und die Begleitumstände der Veröffentlichung in den USA, so dass der zeitgeschichtliche Wirbel, den der Film verursacht hat, nachvollziehbar wird.
Hinter „Interview mit Verleiher B. Rosset und Anwalt Edward de Grazia“ (etwa zwölf Minuten) verbirgt sich ein Gespräch der beiden Amerikaner, in dem sie die Prozesse vor amerikanischen Gerichten, die strategische Ausrichtung des Filmverleihs und die öffentliche Diskussion über den Film zur damaligen Zeit Revue passieren lassen. Die intelligenten Ausführungen erschaffen ein miteinander verwobenes Beziehungsgeflecht, welches das gesellschaftliche Klima zur damaligen Zeit lebendig werden lässt. Ein faszinierendes Dokument historischer Zeitzeugenerinnerungen.
Bei den Interviews mit den Kinobesuchern (etwa eine Minute) handelt es sich um Befragungen damaliger Zuschauer, welche direkt vor dem Kino gemacht wurden. Sie äußern sich darüber, ob der Film schockierend war oder nicht.
In den Interviews mit Filmkritikern (etwa zwei Minuten) kommen drei professionelle Filmbeobachter unterschiedlicher Nation zu Wort, welche beurteilen, ob der Film ein Kunstwerk ist und ob er ungeschnitten die Zensur des jeweiligen Landes passieren wird.
„Vilgot Sjöman wird verklagt“ (etwa eine Minute) fasst mit einer Abfolge gezeichneter Standbilder einen absurden Prozess zusammen, den ein Fernsehzuschauer gegen Sjöman führte, weil er sich durch den Film persönlich beleidigt sah.
Eine Bildergalerie und der Trailer runden das Bonusmaterial der ersten DVD ab.
Die zweite DVD mit der „blauen Variante“ des Films enthält als zentralen Teil des Bonusmaterials den Film „Self Portrait 92” (etwa 57 Minuten). Darin erzählt Regisseur Vilgöt Sjöman seine eigene Biographie. Er nähert sich seinem Selbstverständnis als Künstler, spürt den familiären sowie kinematographischen Wurzeln nach und bindet Veränderungen seines filmischen Schaffens ein. Insgesamt eine spannende Dokumentation, die gleichzeitig die Frage nach der Motivation hinter einem Selbstportrait stellt.
Die geschnittene Szene „Lena und der Erzbischof” zeigt die Konfrontation der Haupttfigur Lena Nyman mit einem Erzbischof in dessen Kirche. Zu provokanten Anklagetiraden wird der Geistliche ausgezogen, bis er nur noch mit einem Lendenschurz bekleidet an Jesus erinnert. Eine sehr schwach inszenierte Szene, die lediglich im Kontext des Films interessant ist.
Eine Bildergalerie und der Trailer runden das Bonusmaterial ab.
Das 27seitige Booklet enthält faktenreiches Textmaterial zu verschiedenen Aspekten rund um den Film.
Fazit
Das Doppelwerk „Ich bin neugierig – gelb”, „Ich bin neugierig – blau” besitzt aus heutiger Sicht nur noch zeitgeschichtliche Relevanz. Zu angestaubt wirken die vorgetragenen politischen Thesen, als dass sie heute noch irgendeine Wirkung entfachen könnten. Die Filme könnten bestenfalls als Inspiration wirken, ihre wirtschaftskritische Stoßrichtung mit heutigen Mitteln zu aktualisieren. Technisch ist die DVD gut.
Stefan Dabrock
|
|
Originaltitel |
Jag är nyfiken - en film i gult, Jag är nyfiken - en film i blått (Schweden 1967, 1968) |
Länge |
117 Minuten, 102 Minuten (Pal) |
Studio |
Legend Films |
Regie |
Vilgot Sjöman |
Darsteller |
Lena Nyman, Vilgot Sjöman, Börje Ahlstedt, Peter Lindgren, u.a. |
Format |
1:1,33 |
Ton |
DD Mono Deutsch, Schwedisch |
Untertitel |
Deutsch |
Extras |
Self Portrait 92, Interviews, u.m. |
Preis |
ca. 20 EUR |
Bewertung |
angestaubt, technisch gut |
|
|